Pflege in Freudenstadt

Fachgespräch zu Pflegebedarf und Pflegeversicherung – Sara Haug besucht das Martin-Haug-Stift in Freudenstadt

Pflegende Angehörige kennen den dauernden Alarmzustand: Wird die Mama wirklich den Notrufknopf drücken, wenn sie gestürzt ist, oder hat sie ihren Umhänger mal wieder auf dem Nachttisch liegen lassen? Wer zahlt beim Vater mit mittelgradiger Demenz die vielen Tätigkeiten, die sein Alltag erfordert, damit er möglichst lange zuhause wohnen kann? Im Rahmen eines Fachgesprächs besuchte Sara Haug, die Bundestagskandidatin der Grünen im Wahlkreis Calw und Freudenstadt, am 7. Juli das Martin-Haug-Stift in Freudenstadt.

Gut Betuchte können sich eine bessere Versorgung in der Pflege leisten. Sie bezahlen einfach selbst, was die Pflegeversicherung nicht mitträgt. So können Betroffene lange zuhause wohnen bleiben, weil eine Seniorenassistentin „den Papierkram“ erledigt, Essen auf Rädern das Kochen ersetzt und ein Minijobber die Instandhaltung von Haus und Garten besorgt.

Was aber bleibt den finanzklammen Pflegebedürftigen für eine Wahl? Sobald die geistigen oder körperlichen Kräfte schwinden und die ehrenamtliche Hilfe von Familie, Freunden und Ehrenamtlichen nicht mehr alles auffangen kann, müssen sie ins Heim. Die Kosten für diese Vollzeit-Unterbringung inklusive Nachtdienst kommen die Pflegekassen jedoch teuer zu stehen. Oft wären gezielt eingesetzte Sachleistungen und Zuschüsse wesentlich wirtschaftlicher, wenn die Betroffenen zuhause gepflegt werden könnten.

Pflegebedarf neu berechnen

Die Grünen fordern in ihrem Wahlprogramm eine Umverteilung bestimmter Zusatzkosten auf die Pflegeversicherungen, um die aktuell bestehende soziale Ungleichheit der Pflegebedürftigen zu bekämpfen. Beim so genannten „Sockel-Spitze-Tausch“ würden Pflegebedürftige zukünftig einen festen Sockelbetrag zahlen. Die Versicherung übernimmt darüber hinaus anfallende Kosten. Welche das sein werden, muss einem gerechten Schema folgen.

In jedem Fall ist eine Reformierung der aktuellen Situation notwendig, denn zurzeit zahlen die Versicherungen den Sockelbetrag, und die Pflegebedürftigen müssen sämtliche zusätzlichen Mittel selbst aufbringen, wodurch riesige Pflegekosten auf die Bedürftigen zukommen können.

Ziel ist: Die Versicherten zahlen einen Sockelbetrag, und was darüber hinausgeht, bringt die Solidargemeinschaft auf. So treffen beispielsweise die notwendigen Gehaltssteigerungen der Pfleger*innen und andere steigende Kosten nicht zuerst die Hilfsbedürftigen.

Schnelle Umsetzung nötig

Im Gespräch mit Hausdirektor Johannes Miller, Petra Willfurth von der Lebenshilfe in Nagold, Elvira Schäffer-Hornbach, früher Lehrerin an einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum und dort unter anderem in Vertretung in der Altenhilfe, und Esther Kiessling, Ärztin und Lehrerin von Altenpflegeschüler*innen, wurden viele Themen behandelt, die aktuell in der Altenpflege wichtig sind und deren Umsetzung auch in der kommenden Wahlperiode von höchster Bedeutung ist.

Miller schilderte eindrücklich, wie Bewohner*innen und Personal mit wenigen Erkrankungen aus der ersten Coronawelle aufgetaucht sind, wie dann im Zuge der Priorisierung ein Impfteam dem Stress einen Riegel vorschob und jetzt alle auf dem Weg zur Normalisierung sind. Das Team ist enger zusammengewachsen.

Digitaltechnik nutzen

Mit dem Neubau des Martin-Haug-Stiftes öffnete sich die Einrichtung neuen Wohnformen. Hier sollen Hilfsangebote an die jeweilige Situation angepasst werden können. Es eröffnen sich innovative Möglichkeiten, beispielsweise kann Sicherheitstechnik erfassen, wenn jemand stürzt, und schnellstmöglich Hilfe anfordern.

Auch die Umsetzung der Digitalisierung in der Pflege ist ein wichtiges und zukunftsträchtiges Thema. Im geplanten Neubau sollen etwa Wohnungen für betreutes Wohnen entstehen, die technisch hochmodern ausgestattet sind. So schaltet sich zum Beispiel ein Bodenlicht automatisch an, wenn jemand nachts vom Bett aufsteht. Durch moderne Technik sollen so Unfälle minimiert und gleichzeitig den Pflegenden Arbeit abgenommen werden. Denkbar ist auch ein Smart System, das Unregelmäßigkeiten im Verhalten erkennen und direkt Pflegekräfte alarmieren kann.

Übergang statt Einschnitt

Für Pflegebedürftige ist der Umzug in ein Pflegeheim ein harter Einschnitt. Insbesondere für die zunehmende Zahl an Hochbetagten und an Menschen mit Demenz ist das Verlassen ihres vertrauten Lebensumfeldes eine nicht zu unterschätzende psychosoziale Belastung. Demenzkranke zum Beispiel erleiden regelmäßig irreversible Rückschläge in ihrem Orientierungsvermögen, wenn sie aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden – eine bestürzende Beschneidung der Lebensqualität und auch der Lebensdauer.

Mit dem Ausbau der ambulanten Pflege können die Betroffenen länger zuhause wohnen. Betreutes Wohnen wird stark nachgefragt und bietet oft einen schrittweisen Übergang, bis die Betreuung in einem Pflegeheim wirklich erforderlich ist. Dadurch werden ebenfalls die dringend benötigten Pflegekräfte entlastet, und die Pflegebedürften behalten einen Großteil ihrer Autonomie.

Impulse für die Ausbildung

Zur Frage der neuen Pflegeausbildung ist Miller sicher, dass sich die wissenschaftliche Entwicklung positiv auf die verschiedenen Herausforderungen der Praxis auswirken kann, auf neue Wohnformen und auf die Koordination von Netzwerken und Familien.

Nicht alle Leistungen müssen von vornherein durch das Personal eines Pflege- oder Wohnheims erbracht werden. Wenn Angehörige immer noch zu Arztbesuchen mitgehen oder regelmäßig zu Spaziergängen kommen können, wird dies weiter genutzt. Dies entlastet die ohnehin knappe Belegschaft. Eine große Erleichterung auf Seiten der Angehörigen ist die medizinische Sicherheit der Betreuten. So kann es einen weichen Übergang bis hin zur kompletten Versorgung durch Pfleger*innen und Hauswirtschaftskräfte geben, und die (mit-) pflegenden Angehörigen können sich auf einen erträglichen Anteil an Verantwortung konzentrieren. Pflege steht dann auch weniger unter Zeitdruck, man verbringt ja Lebenszeit miteinander.

Klar ist auch: Mit Schulabgänger*innen alleine aus Deutschland kann die Pflege nicht mehr organisiert werden. Zunehmend gibt es differenzierte Initiativen, Personen aus dem Ausland hier eine fundierte Ausbildung anzubieten, damit sie nicht von ausbeuterischen Vermittlern abhängig sind und legal in Deutschland arbeiten können.

Die Verbesserung der Bedingungen in der Pflege wird in den kommenden Jahren verstärkt im Fokus der Politik stehen. Für die junge Bundestagskandidatin war es daher wichtig, sich frühzeitig ein Bild der Situation vor Ort zu machen.

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